Weg mit der Witwenrente
NZZ vom 6.12.16, Gastkommentar von Sylvia Locher
Das heutige System der Hinterbliebenenrenten hinkt der Realität hinterher. 70 Jahre nach Einführung der AHV haben sich die beruflichen, gesellschaftlichen und finanziellen Bedingungen der Frauen stark verändert. Indessen ist das Prinzip der Hinterlassenenrenten praktisch gleich geblieben. Zum Teil wurde es sogar verbessert. Heutzutage müssen wir uns jedoch ernsthaft die Frage stellen, ob eine Verknüpfung von Ehemann und Rente der Gleichstellung von Frau und Mann nicht zuwiderläuft.
Manche Ehefrau begibt sich in die Abhängigkeit von ihrem Ehemann. Je mehr er verdient, desto besser ist auch ihre ökonomische Situation. Dank AHV und Pensionskasse ist sie in der Regel auch im Falle seines Ablebens abgesichert. Rentenbildend wirken sich ebenfalls die Erziehungsgutschriften aus. Eine nichtberufstätige Ehefrau mit Kindern kann sich damit die bessere Altersrente sichern als eine im Tieflohnbereich (Gesundheitswesen, Gastronomie, Verkauf) berufstätige Frau ohne Kinder. Das System belohnt die Aufgabe solcher Berufstätigkeit und fördert die Abhängigkeit vom Ehemann.
Für Frauen, die verheiratet sind oder waren, haben die Reformen der Sozialversicherungen eine finanzielle Verbesserung gebracht. Das gilt nicht für die Ledigen. Gerade bei der AHV-Rente sind die ledigen Frauen und Männer benachteiligt. Gemäss AHV-Statistik 2015 erreichen nur gerade 8312 ledige Frauen die maximale AHV-Rente von 2350 Franken, während es bei den verwitweten Frauen 115 200 sind. 42 Prozent der Witwen und 51 Prozent der Witwer erhalten eine Maximalrente. Bei den ledigen Frauen und Männern erhalten etwa 13 Prozent eine Maximalrente. Der Grund für den hohen Anteil der Maximalrente bei den Verwitweten liegt darin, dass bei dieser Personengruppe eine Berechnungsart zugrunde liegt, die schneller zur Maximalrente führt, zum Beispiel durch Anrechnung der Erziehungsgutschriften und/oder des Verwitwetenzuschlags von 20 Prozent.
Es ist ungerecht und nicht mehr zeitgemäss, dass Ledige mit der niedrigsten Rate bei der maximalen Vollrente Witwen mitfinanzieren, die die höchste Rate aufweisen. Und es ist unverständlich, wieso die ständerätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit diese Ungerechtigkeit nicht aufheben will. Das Volk würde dies nicht akzeptieren, heisst es. Und die Frauen müssten bereits das höhere Rentenalter 65 in Kauf nehmen. Dieser Vergleich hinkt. Es sind nicht die gleichen Frauen, die bis 65 berufstätig sein werden oder schon früher eine Witwenrente beziehen. Der Nationalrat hat richtig entschieden, indem er in der Herbstsession die Witwenrente für Frauen ohne Betreuungspflichten sowie die Kinderrente zur Altersrente gestrichen hat.
Im Übrigen ist in der Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen der Anteil der Frauen mit dem Abschluss einer Fachhochschule oder einer universitären Hochschule mittlerweile gar höher als jener der Männer (2016). Eine bessere Bildung bedeutet mehr Unabhängigkeit und Eigenverantwortung. Ein Grund mehr, die Witwenrente infrage zu stellen. Ausserdem können Witwen sofort nach dem Ableben ihres Ehemannes einen Anspruch auf eine Arbeitslosenentschädigung geltend machen, denn sie gehören zur Gruppe der Beitragsbefreiten.
Unter Einbezug aller genannten Faktoren ist die Streichung der Witwenrente für Frauen ohne Betreuungspflichten vertretbar. Für Frauen, die bei Inkrafttreten der Altersvorsorge 2020 bereits 50 oder älter sind, müsste nach Bedarf eine adäquate Übergangslösung geschaffen werden. Der Wegfall der Witwenrente hätte auch einen richtungsweisenden Nebeneffekt. Wenn es allen Ehefrauen bewusst ist, dass sie nicht dank ihrem Ehemann zeitlebens mit einem Einkommen oder einer Rente rechnen können, stärkt das die Motivation, entweder im Berufsleben zu bleiben oder nach der Kinderphase so schnell wie möglich wieder einzusteigen. Dieses Bewusstsein für die Komplexität der Altersvorsorge muss dringend bei allen Frauen und Männern gestärkt werden.
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